Klaus Stadtmüller

 
DIE WÜRDE DES UNBEKANNTEN

 

 

Gerade in Worpswede ist es nicht leicht, unter den Toten lebendig zu sein. Wenn dort nach
gegenwärtigen Künstlern gefragt wird, kommt die Rede unweigerlich auf Heini Linkshänder.
»Das Moor hat seine Schuldigkeit getan«. Zu dem lässt sich etwas sagen, über den lässt
sich streiten, der strotzt vor Lebendigkeit, als Figur allemal. Drahtiger, untersetzter Typ,
vollbärtig grau wie die Stoppelglatze, ein prächtiges und leibhaftiges »Macho«-Exemplar,
Jahrgang 1938. Der Mann ist hörbar Bayer und alles andere als blutleer. Der kann sich’s
leisten, wenn überhaupt jemand, mit dem eigenen Lebenssaft zu malen, was er denn
auch bisweilen ganz buchstäblich tut: »Ich zeige meine Wunde«.

 

Anderen sieht man kaum sofort an, daß sie Linkshänder sind; diesem schon, weil ihm der
rechte Arm fehlt, abgebissen von einem Hai oder abgeschossen beim Hitlergruss aus dem
Schützengraben. Diese und andere Lügenerklärungen verbreitet er selbst, von der Kreissäge
abzulenken, die ihm in seinem Vorleben als Tischler in die Quere kam. »Schmerzerfahrung
als Lebenserfahrung«. Das war vor 36 Jahren und hält ihn nicht ab von Skilauf,
Hausbau, Kochen, Goldschmieden. Und wenn er ein paar Stunden lang überm Feinlöten still

gesessen hat, dann treibt es ihn auf’s Rennrad und um in der Landschaft, 60 Kilometer
leichterdings. So einer ist er, der Heini Linkshänder, der seit 1984 außerhalb des
Dorfstädtchens Worpswede im Wald allein lebt. Da mag sich mancher oder manche einen
groben Klotz vorstellen und sich auf Streit einlassen mit diesem Urviech. Viele haben
dabei den kürzeren gezogen und hernach festgestellt, daß die Auseinandersetzung mit
ihm lohnt, auch mit seiner Empfindsamkeit, und selbst oder gerade dort, wo er sich
kraftmeierisch gibt: »Ich siege gern« beziehungsweise »Ich denke, was ich tu und was machst du?«

 

Als er 1983 erstmals mit einem Stipendium nach Worpswede kam, war er zwar immer noch
Autodidakt, aber einer mit einer kleinen Ausstellungsliste, war bei Kunstaktionen und
Performances mit der Polizei angeeckt, hatte Fluxus-, Stamp- und Concept-Art-Erfahrungen
gesammelt und sich Beuys’ erweiterten Kunstbegriff zueigen gemacht. Dann allerdings
hat er sich, und zwar vorbehaltlos, auf die Kunst als Lebensform eingelassen. »Kunst ist
eine Frage der Entscheidung« und »Meine Heimat ist die Kunst und die sitzt im Kopf«.
Inzwischen sind eine Reihe weiterer Ausstellungen und auch einige Auszeichnungen
hinzugekommen. Da kann er sich schon mal eher abfällig über die akademische Ausbildung
der Maler und Bildhauer auslassen.

 

Für eine schubladengerechte Verortung gibt er sich zu sperrig, dieser Künstler, der so wenig
verwechselbar ist mit einem Kunstmenschen. Lieber und richtiger läßt er sich erwischen
beim Herausstellen und Herausarbeiten von Gegensätzen und deren Vermählung zu
Ästhetik. Heini Linkshänder zeichnet, malt, collagiert, druckt, aquarelliert, baut Objekte
und Objektkästen, isoliert und verbindet Fundstücke, inszeniert sich und Installationen,
arbeitet in und mit Metall, Holz, Wachs, Stoff, Stein. Praller, sinnlicher und intensiver kann
eigentlich die Befassung und Auseinandersetzung mit Kunst kaum sein.

 

»Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, wird Sehnsucht geboren«. Gemeinsam ist allen
diesen unterschiedlichen Arbeiten ein kraftvoll schöpferischer Impetus, dem – gerade in den
Zeichnungen und Aquarellen – mittlerweile eine Sicherheit und Entschiedenheit eignet,
die beileibe nicht traumwandlerisch, wohl aber das Ergebnis lang geübter Suche ist. »Ernte
langer Zeiten oder das Unkraut wächst mit dem Weizen«. Die Zeichnungen auf Papier
werden in herkömmlicher Technik mit dem Bleistift oder aber mit dem Pinsel ausgeführt,
im letzteren Fall gern in schwerer Ölfarbe, die dann einen Hof, eine Art Fettrand als Kontur
bildet und die dargestellte Form zusätzlich heraushaut aus der hintergrundlosen Fläche.
Die Formen, die uns so entgegentreten, sind von sparsamem Reiz, elementar und eigenständig.
Und sie sind entschlossen selbst da, wo der Stift behutsam graphisch geführt wird.
Entschlossen übrigens auch im wortwörtlichen Sinn von unverstellt und direkt, was hier
gewiss nicht als Andeutung von Naivität oder Plumpheit verstanden werden soll.

 

In den Kernsprüchen des Heini Linkshänder, die so plastisch wie poetisch sind, daß sie hier
allenthalben wiedergegeben werden, tauchen häufiger Kopf- und Denkmetaphern auf.
Zumindest die Zeichnungen und Aquarelle entraten indes wohltuend jeglicher Rationalität.
Sie sind nicht dem Kopf entsprungen und gefroren, sondern Sturzgeburten aus einem
stets neu angereicherten Formenkanon. Sie leben kühn von und mit der Spannung
zwischen Linie, Farbe und Fläche. »Wir haben zu wenig Blitze«, donnert einer, der seine
Kraftfelder so packend entlädt, seine Lebendigkeit so unmittelbar und schön zu Papier bringt
und immer wieder auch in die Dreidimensionalität. Als Beispiel die »Flotte der Gedankenschiffe
«, eine traumhafte Installation von Schiffskörpern, kruder Beton mit einem
Kupfermast, die er später in einer Ausstellung kurzerhand durch 55 Ziegelsteine ersetzte.

 

Die vitale Stärke des Künstlers Linkshänder liegt im Erkennen, im Finden der Form und
dem Mut, sie frei- und auszusetzen. Das wird offenbar, wenn er einem Ast die vereinzelbare
Gestalt eines Ellenbogens abguckt, eine Metallscheibe zum Exponat erhebt oder aus
geschmeidigem Kupferrohr die Hirsch-Chiffre beziehungsweise geometrische »kristalline
Eckstücke« lötet. Und die nämliche Formsicherheit, nur noch vorbildlicher, treffen wir
in seinen Zeichnungen, den »Weibsbildern« zumal, die so gar nicht zu diesem Mannsbild
zu passen scheinen.

 

»Brechen wir das Eis von unseren Lippen«. Es geht um »die Würde des Unbekannten«.
In der Mehrzahl sind diese Weibsbilder alleinstehende Frauen im wahrsten Sinn,
unüberhöht und von einem Selbstbewusstsein, das eine Anmutung von Zweifel, Kummer,
Furcht und Einsamkeit sowie Gefangensein ebenso zulässt wie den vorgezeigten Stolz
und die Weltversessenheit darüber, die Entschiedenheit, Koketterie und das Versponnensein.

 

Hüten wir uns andererseits, aus diesem Kraftbolzen, der so gar nicht resigniert und
weinerlich ist, einen Weichspüler zu machen. Das würde nicht der Vorstellung gerecht, die er
von sich hat und – richtiger noch – die andere von ihm haben, solche beispielsweise, die sich
von ihm provoziert fühlen, bisweilen zu Recht. Dazu könnte man die Stadtväter und -mütter
von Worpswede oder einige seiner Künstlerkollegen dort nach ihren Gefühlen befragen. Es
ist eben nicht leicht, auf einen stolz zu sein, der grantelt: »Das Dorf ist schwanger, aber
Martha gebärt nicht mehr«. Immerhin, die Zweifler haben noch Zeit; Heini Linkshänder
bleibt. Lauthals hat er 1993 eine Ausstellung in Worpswede betitelt: »Neun Jahre sind nicht
genug«.

 

 

 

1997, die horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Nr. 183,

Verlag Neue Wissenschaften, Bremerhaven