Klaus Stadtmüller

 

HEINI NACHGERUFEN

 

 

Nachrufen. Als Kinder haben wir das gemacht: »Wer hat denn die Mütze als Letzter berührt?
Du doch, Letzter, Verpetzter!« Keine Ahnung,damals, dass Nachrufen mal eine andere, viel
ernstere Bedeutung haben könnte. Das letzte Mal, egal, wie zuletzt, damals wars allenfalls
vorläufig bis zum nächsten letzten Mal. Inzwischen sind wir älter geworden, sehr viel
älter, und vorsichtiger mit den Worten, schon gar mit diesem drohenden »zuletzt«.
Auch das Nachrufen haben wir uns abgewöhnt oder aufgespart für den dunklen Anzug,
eher als Nachsagen: dem kann man nichts Schlechtes ... So, also, sage ich nach, Letzter,
Entsetzter, was Heini anderen und mir gesagt hat, vollmundig Kraft strotzend, wie‘s halt so
seine Art war: »Ich habe das Kreuz auf mich genommen«, »Ich bin ein Kopf der Leidenschaft«,

»Die Energie bin ich«, »Meine Heimat ist die Kunst und die sitzt im Kopf«,
»Ohne mich zu fragen sollten Sie keine Kunst kaufen«, »Ich habe den Unfall
gebraucht, um zur Vollendung zu kommen«.


Wie gern entdeckt man hinter solch Maulhuberei ein zartes Gemüt. In diesem Fall:
Fehlanzeige. Mitfühlend, liebevoll, empfindsam, ansteckend, elektrisierend ja ... aber
kraftvoll statt zart, wenn auch nicht gar so wuchtig wie Wotruba, der einer seiner Meister
war. Freilich – und ich sage glücklicherweise – verliert sich das Spruchbandpathos in den
Bildern selbst. »Bilde, Künstler, rede nicht«, hatte Goethe empfohlen – vergeblich. Aber die
gemalten und gezeichneten Linkshänderhäuser wie auch viele seiner Skulpturen stehen,
umgeben von großer Stille und unter vollem Himmel, in der platten Moorlandschaft,
die er auch als Radler mochte, während der Baier, Kraxler und Skilehrer in ihm bisweilen doch
Sehnsucht nach den Bergen hatte.


Diesem hemdsärmeligen Kraftbündel hatte es der blass-keusche Josef Beuys angetan –
übrigens auch Einer, den er sich als Hörer pfiffig erschlichen hat, wie so manche Andere
landauf landab, so dass das wohlfeile Etikett vom Autodidakten nur bedingt seine Richtigkeit
hat. Mit dem französisch-rumänischen Bildhauer Brancusi und seinen Eierschicht-
Säulen, dem er eine Skulptur widmete, hat er, scheint mir, wenig Gemeinsamkeiten. Mit
Joseph Beuys hingegen, dem schamanistischen Vielredner, hat Heini u. a. die Mythisierung
des Lebenslaufs gemein, zumindest, wie er, der 22-jährige Tischler, zum Linkshänder
wurde: abgeschossen, der Arm, im Schützengraben, abgebissen von einem Hai, abgerissen

beim Flugzeugabsturz oder von einem Kometen – aber, bitte sehr, die beiden
letzteren Erklärungen habe ich selbst erfunden, nach Linkshänderart. Aber eben rein nichts
vom »Schmerzensmann der Kunst«, wie man Beuys bezeichnet hat. Eher schon kommt
einem Anatol, der Schmied-Polizist-Künstler und Beuys-Schüler, in den Sinn mit seinem
märchenhaften »Traumschiff Tante Olga«, das auf seine Weise korrespondiert mit Heinis
Beton-Boot-Flotte, wie sie im Bunker F 38 in Bremen ausgestellt war. Mir jedenfalls scheint
eine Verwandtschaft mit den ungleich ernsteren Tuschzeichnungen von Walter Pichler
näher liegend, dem österreichischen Künstler und Architekten, der Heini gerade um zwei
Monate überlebt hat. Der pfiffige norddeutsche Baier hingegen kann lachen und lachen
machen. »Wo ist mein Hund?«, nennt er ein abstraktes Ölbild, »Merkur auf dem Weg zur
Venus« einen aquarellierten hockenden Mann. Auf einen »Vogelleeren Himmel« blickt eine
Frau vom Aussichtsturm und einer seiner Stempel lautet »Botschaft an Jemanden«.
Auch vom Foto lacht er einen an, egal, ob er sich uns, auf eine Axt gestützt, zuwendet,
kurzbehost dasteht mit einer Plastik im Arm wie eine Heugabel oder mit gemaltem Kreuz
auf der Stirn im Gespräch mit einem Ausstellungsbesucher – stets lachend, so vorbehaltlos,
so offen, so unausweichbar, wie ich ihn erlebt habe.

 

Die Geschichte, wie wir einander kennen gelernt haben, verträgt die Wiederholung:
Winter war‘s in Worpswede, wo ich – dank Martin Kausche – Gast im Atelierhaus war, wie
seinerzeit 1983 Heini Linkshänder, als er zum ersten Mal ins Künstlerdorf kam. Bei einer
beliebigen Ausstellungseröffnung waren wir ins Gespräch gekommen. Der untersetzte
Graukopf hatte sich durch Widerspruch bemerkbar gemacht. Bald drauf war ich bei
Glatteis und klirrender Kälte per Fahrrad unterwegs zu ihm in die Mevenstedter Straße.
Mit heißem Amaretto, gekrönt von einem Sahnehäubchen, und Linkshänderpfannkuchen
hat er mich aufgetaut und gesprächig gemacht, ehe er mit seinen Arbeiten herausrückte.
Darüber haben wir lange gesessen. Als es Zeit für den Aufbruch war, habe ich, faux
pas, ihn für den kalten Rückweg gefragt, ob er mir ein Paar Handschuhe leihen könne, ja,
ein Paar, habe ich gedankenlos gesagt. Er quittierte es mit einem Lachen, seinem
ansteckenden Lachen, und suchte mir ein paar Wollsocken heraus, die ich über die Hände
ziehen konnte.

 

Es folgten weitere Begegnungen in Worpswede, in Neustadt und in Hannover, meist
allerdings in wärmeren Jahreszeiten. Einmal brachte er mir, dem Schwitters-Freund, eine
kopierte Buchseite mit großem Portrait meines Hausheiligen mit; darüber hatte er links
senkrecht einen groben Pinselstrich gezogen, oben rechts dazu einen dicken Punkt im Kreis,
beides in kräftigem Rot, und rechts unten im leeren Feld unter der faksimilisierten
Unterschrift von Kurt Schwitters stand Heinis Widmung für mich und seine Signatur
»Linkshänder 93«. So lange ist das her. Weit weg und ohne die geringste Ahnung, dass es
mit Heini zu Ende ging, habe ich noch im April 2012 nach 10-jährigen Auslandsaufenthalten,
in denen wir einander nicht getroffen haben, diese Freundschaftsgabe in der neuen
Behausung in Frankreich aufgehängt und die beiden Fluxus-Päckchen ausgepackt, deren
eines Fotos von seinen Arbeiten enthält und das andere ein knallrotes Kissen mit dem
Aufdruck »Bitte nicht in die roten Kissen weinen«. So, wie er offenbar kurz vor seinem
Tod noch eine Abschiedsfeier gegeben hat, würde er vermutlich diese Aufforderung jetzt
uns Hinterbliebenen gegenüber wiederholen: »Bitte nicht weinen« – unabhängig davon,
welche Farbe die Kissen haben mögen. 

 

Vollmundig hatte Heini Linkshänder 2000 auf einer Postkarte plakatiert »Ich beneide Beuys
um seinen Tod«. Der war 1986, drei Jahre nach Heinis Ankunft in Worpswede, im 64. Lebensjahr
in seinem Atelier gestorben, elf Tage, nachdem ihm der Wilhelm-Lehmbruck-Preis
verliehen worden war. Sicher neidete Heini Linkshänder dem Lehrer damit nicht die
Lungenentzündung, wohl aber vielleicht, dass es ihn mitten bei der Arbeit ereilte, eben
preisgekrönt. 1993 war der Wahlworpsweder 2. Preisträger im Gestaltungswettbewerb
»Kunst im öffentlichen Raum Bremen«, nicht gerade üppig belohnt für ein so vielfältiges,
eindrückliches OEuvre. Immerhin, er ist ein Jahrzehnt älter geworden als Beuys und noch
2008 gab es eine Einzelausstellung mit dem zutreffenden Titel »Mit Biss ins nächste
Jahrzehnt – Heini Linkshänder 70«. Bei aller Vitalität hat er gewusst, dass es auch ihn
einmal erwischen würde. Titel wie »Wo ist ein bleiben?«, »Erde in den Mund«, »Tappe in
der Schwärze umher«, »Der Tod ist wie ein Berg«, »Wo sind wir, wenn wir nicht mehr
sind?« zeugen davon. Einer wie Heini Linkshänder bleibt, davon bin ich überzeugt,
in den Köpfen, in den Herzen und an der Wand bei denjenigen, die ihn und seine Arbeiten

kannten und weiterhin mögen. Ich zumindest mag seine gezeichneten und gemalten
archaischen Figuren, die so kraftvoll wie einsam sind. Ich mag seine gekonnt reduzierten
Köpfe. Ich mag seine kargen, horizontal gegliederten Landschaften. Ich mag seinen
Sinn für die Proportionen in der Fläche und in der Mehrdimensionalität. Ich mag seine
kompakten, Schutz bietenden Holzbehausungen, seine plastischen Arbeiten in Metall,
die daherkommen, als hätten sie seit je in dieser guten Form gewohnt. (Übrigens: das
Knie, von dem Joseph Beuys keck verkündet hatte, dass es ihm zum Denken diene, Heini
hat es gemacht als gediegen einfache und schöne Wandplastik, ein vertikal um die Ecke
gebogenes Rohrstück.) Und ich mag halt denjenigen, der dies alles ausgedacht und mit
Könnerschaft und Witz umgesetzt hat mit Hilfe von Säge, Klöpfel, Meißel, Schweiß- und
Lötgerät, mit Pinsel, Zeichenstift, gar mit dem eigenen Blut – und alles mit links, was
beileibe nicht heißen soll, dass es dem Hersteller in den Schoß gefallen wäre.

 

In welche Schublade soll man ihn stecken? Es müsste eine sein, in der noch niemand
drinsteckt. Aber dann ist es keine Schublade, jedenfalls keine, die bereits ein Etikett trägt.

Also bleibt er draußen vor und quicklebendig. In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts
wie bis heute war es wahrhaftig nicht leicht, unter den toten Worpsweder Zelebritäten
als Künstler lebendig zu sein. So oder ganz ähnlich hatte ich vor Jahren einen Artikel
über Heini Linkshänder und seine Formarbeit begonnen. Heini Linkshänder, dem Zugereisten,
ist das Kunststück gelungen, obgleich oder weil er sich abgesetzt hat: »Das Moor
hat seine Schuldigkeit getan« und »Kultur hat Konjunktur oder immer wieder Martha«.
Er war als Person und mit seiner Kunst gegenwärtig, alles andere als ätherisch oder bloß
ästhetisierend, ist angeeckt (nicht allein mit seiner »Welle der Erregung«, die er in Beton
vor das Alte Rathaus in Worpswede gegossen und nächtens bewacht hat). Ich hege gern die
Vermutung, dass dieser vitale Künstler jetzt und künftig zu den lebendigeren Toten in und
aus Worpswede gehören wird.

 

 

Les Granges 2013